Spiegelfechter - November / Dezember 2010

   
 

Stuttgart 21 - der Bahnhof, den niemand will und niemand braucht

 
     
 

(D.K.) Ein Leser machte mich auf die Webseite www.spiegelfechter.com und den interessanten Artikel Stuttgart 21 aufmerksam. Der Spiegelfechter wird von Jens Berger ediert.

Stuttgart 21 ist mehr als ein Bahnhof. Die baden-württembergische CDU und sogar Bundeskanzlerin Merkel haben bereits ihr Schicksal an das umstrittene Infrastrukturprojekt gekoppelt. Ob dies eine weise Entscheidung war, darf bezweifelt werden, da nahezu alle Sachargumente gegen den unterirdischen Bahnhofsneubau sprechen. Macht es aber ein Geräusch, wenn im Wald ein Baum umfällt und es ist niemand in der Nähe, der es hören könnte? Bei politischen Fragen gibt es kein „richtig“ und kein „falsch“, es gibt keine alleinige Wahrheit.

So ist die Frage der politischen Zukunft von S21 und der CDU vor allem eine Frage der Transparenz und des Informationsflusses. Gelingt es den Medien, das Dickicht zu lichten, wird S21 schon bald zum Fanal. Gelingt es den Befürwortern, die öffentliche Diskussion zu dominieren, wird S21 ebenfalls zum Fanal – aber erst mehr als zehn Jahre später, wenn der Bahnhof steht und nicht mehr zu leugnen sein wird, daß er eine gigantische Fehlplanung war. Dann sind Merkel und die regionalen Verantwortlichen aber bereits von der politischen Bühne verschwunden und ihre Nachfolger werden sich sicherlich der „brutalstmöglichen Aufklärung“ verpflichten. Doch was sind eigentlich die Sachargumente, die gegen – oder auch für – S21 sprechen?

Infrastruktur
Ginge es nach den Projektverantwortlichen, so würde der unterirdische Durchgangsbahnhof vor allem als Kapazitätserweiterung gesehen – mehr, bessere und schnellere Verbindungen, kürzere Wartezeiten und eine internationale Anbindung an die geplante Magistrale von Paris nach Budapest. Das macht sich freilich gut in den Hochglanzprospekten, die allermeisten Reisenden am Stuttgarter Bahnhof wollen allerdings weder nach Paris, noch nach Bratislava oder gar Budapest, sondern nach Waiblingen, Böblingen oder Esslingen – es sind insgesamt nur 10% der Bahnreisenden, die Stuttgart als Durchgangsbahnhof nutzen. Wenn aber neun von zehn Reisenden im Bahnhof aus-, ein- oder umsteigen, bietet ein Kopfbahnhof wegen seiner kurzen und ebenerdigen Wege, und der Möglichkeit, Züge auch warten zu lassen, natürlich optimale Verhältnisse. Ein unterirdischer Durchgangsbahnhof, der – kostenbedingt – nur die Hälfte der Gleise und Bahnsteige vorhält, kann das nicht leisten.

Der Eindruck, Stuttgart sei ein hoffnungslos veralteter und ineffizienter Bahnhof, ist ebenso falsch wie durchsichtig. Im Gegenteil, Stuttgart zählt zu den Bahnhöfen, in denen es nur sehr selten betriebsbedingte Störungen und Verspätungen gibt. Das hat natürlich seinen Grund. Wie Egon Hopfenzitz, der den Stuttgarter Bahnhof 14 Jahre lang geleitet hat, betont, besitzt der Bahnhof durch seine dreigeschossigen „Überwerfungsbauwerke“ eine optimale, da maßgeschneiderte Gleisanbindung. Es finden keine Kreuzungen statt, Fern- und Nahverkehr sind sauber getrennt und kommen sich nicht gegenseitig ins Gehege.

All dies würde sich bei einem unterirdischen Durchgangsbahnhof mit der Hälfte der Gleise und Tunneln als „Gleisvorfeld“ natürlich diametral ändern. Die These, daß Stuttgart 21 die doppelte Leistungsfähigkeit eines Kopfbahnhofs bieten würde, ist durch mehrere Gutachten nicht nur widerlegt, sondern sogar ad absurdum geführt. Um knackige Daten für die bunten Powerpoint-Präsentationen zu bekommen, haben die Planer absurd anmutende Idealwerte unterstellt, die in der Praxis kaum einzuhalten sind. So wurde beispielsweise die Haltezeit für S21 unrealistisch kleingerechnet – Fernverkehrszüge sollen nur noch zwei Minuten, Nahverkehrszüge (60% des Zugaufkommens) sogar nur eine einzige Minute im Bahnhof halten. Um eine doppelte Leistungsfähigkeit zu „errechnen“, rechnete man im Umkehrschluß natürlich die Haltezeiten im Kopfbahnhof künstlich hoch – vier bis sechs Minuten für den Fern-, sechs Minuten für den Nahverkehr. Diese Zahlen entbehren allerdings jeder Grundlage, sehen die technischen Daten doch eine Haltezeit von drei Minuten vor. Zahlen unter diesen drei Minuten sind allerdings auch für S21 unseriös, will man sich den minutiös abgestimmten Verkehrsplan nicht von Senioren oder Frauen mit Kinderwagen ruinieren lassen.

Wenn man nun aber die Haltezeiten der einen Variante künstlich halbiert und bei der anderen Variante künstlich verdoppelt, kommt man natürlich auch auf eine doppelte Leistungsfähigkeit von S21. Rechnet man seriös, kommt man indes nur auf die Hälfte der Leistungsfähigkeit. Die abstrus eng gestaffelten Fahrpläne sind auch einer der Kritikpunkte, die das Beratungsunternehmen sma + Partner im Auftrag des Bundesverkehrsministeriums kritisiert.

Was die Schweizer Prüfer vor zwei Jahren herausfanden, war eine schallende Ohrfeige für die S21-Planer. Das gesamte Fahrplankonzept gleicht demnach einem Ritt auf der Rasierklinge. Selbst unter optimalen Annahmen führen strukturbedingte Probleme zu massiven Folgen für den Fern- und Nahverkehr: So müssen ICEs und ICs beispielsweise in den eingleisigen Tunneln häufiger hinter S-Bahnen herfahren, Kreuzungen von Nah- und Fernverkehr sind sekundengenau abgestimmt, jede kleinste Verspätung einer S-Bahn würde somit den Fernverkehr durcheinanderbringen, da die ICEs in den engen Tunneln steckenblieben. Das ist immerhin noch befriedigender als das Ausfallkonzept im S-Bahn-System. Bleibt hier eine S-Bahn im Tunnel stecken, fällt der S-Bahn-Verkehr bis zur Behebung des Problems komplett aus. Das Chaos ist somit vorprogrammiert.

Selbst ohne Störungen führt das Tunnelkonzept dazu, daß nur noch zwei Fernzüge pro Stunde auf der – zum S21-Projekt gehörenden – Neubaustrecke Stuttgart-Ulm fahren können. Stuttgart ist somit nicht nur für den deutschen Bahnverkehr, sondern auch für die Magistrale Paris-Budapest ein unkalkulierbares Nadelöhr.

Das sma-Gutachten spricht daher von einem “hohen Stabilitätsrisiko”, einem “schwer beherrschbarem Gesamtsystem”, und einer “geringen Gestaltungsmöglichkeit des Fahrplans” ohne Perspektiven für Angebotserweiterungen. Kein Wunder, daß über dem Gutachten in fetten Lettern der Satz “Aufgrund der Brisanz der vorliegenden Resultate ist absolutes Stillschweigen erforderlich” prangt. Zum Glück ist dieses Geheimgutachten jedoch einem Reporter des STERN zugespielt worden – ein Etappensieg im Kampf gegen die Kampagne „Täuschen, Tarnen, Tricksen“ der Projektverantwortlichen. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch ein Gutachten der Planungsgesellschaft Vieregg- Rössler, das jedoch von den Projektgegnern in Auftrag gegeben wurde:

“Mit Ausnahme der Tatsache, daß im geplanten unterirdischen Durchgangsbahnhof das Kopfmachen der Züge bei der Weiterfahrt über Stuttgart Hbf hinaus entfällt und daß im Punkt-zu-Punkt-Verkehr zwischen dem zukünftigen Hauptbahnhof und dem geplanten Bahnhof für Flughafen und Messe Stuttgart gegenüber der heutigen S-Bahn nennenswerte Fahrzeitverkürzungen erzielbar sind, führt das Projekt Stuttgart 21 durchwegs zu Verschlechterungen des Eisenbahnbetriebs.”

Anstatt ein Nadelöhr zu beseitigen, das objektiv gesehen überhaupt nicht existiert, wird somit erst ein Nadelöhr geschaffen. Ein Schildbürgerstreich, wären da nicht die hohen Kosten für die Allgemeinheit.

Sicherheit
Auch auf dem Gebiet der Sicherheit macht das S21-Konzept Konzessionen, die ein massiver Rückschritt zum aktuellen Verkehrssystem sind. So wird beispielsweise aus Kostengründen der Abstand zwischen den Rettungswegen und dem Zugverkehr in den Tunneln so weit verengt, daß die Züge in den Rettungsweg hineinreichen – wohl dem, der schlank ist und nicht im Rollstuhl sitzt. Was darf Sicherheit kosten? Darüber haben sich die Verantwortlichen offenbar noch nicht einmal Gedanken gemacht, würde die Antwort ihr Konzept doch vollends aus dem Kostenrahmen treiben.

So deckte der STERN in dieser Woche auf, daß interne Papiere der DB Projektbau GmbH von einem blanken Chaos sprechen. Selbst grundlegende Sicherheitsfragen seien immer noch unbeantwortet. So wurden bislang beispielsweise die Auflagen für die Brandschutztore noch nicht in der Entwurfsplanung umgesetzt und die Umsetzung der Brandschutzmaßnahmen sei bisher noch nicht einmal geplant worden. Wenn die Auflagen aus den fachtechnischen Prüfungen nicht in der Planung umgesetzt würden, so die unverhohlene Drohung der Ingenieure, würde „keine Freigabe der Planung erfolgen“ und „das Projekt [könne] nicht weitergeführt werden“.

Was die Planung ebenfalls ausspart, sind die eisenbahntechnischen Vorkehrungen in den zu bauenden Tunneln. Weder Oberleitungssysteme noch Signalanlagen sind bisher Bestandteil der Planung. Kein Problem, das kann man später nachholen? Nein, so einfach ist das nicht. Die Tunnel im S21-Konzept sind mit einem Radius von 4,05 Metern nämlich außerordentlich schmal bemessen. Für herkömmliche Oberleitungs- und Signalsysteme bleibt da kein Platz. Auch das ist natürlich für die Hochglanzprospekte kein Problem, schließlich gibt es ein hochmodernes System namens European Train Control System (ETCS), das für zukünftige Hochgeschwindigkeitszüge vorgesehen ist. Hinter ETCS steht ein internationales Konsortium rund um den bestens vernetzten Siemens- Konzern.

Doch durch das Stuttgarter Tunnelsystem fahren nicht nur ultramoderne Hochgeschwindigkeitszüge, die es momentan bei der Deutschen Bahn noch gar nicht gibt, sondern vornehmlich Nahverkehrszüge und S-Bahnen. Die Aufrüstung auf das ETCS-System ist allerdings sündhaft teuer – rund 300.000 Euro pro Lok. Es ist unwahrscheinlich (und unbezahlbar), daß der komplette Süd-West-Nahverkehr mit ETCS aufgerüstet wird. Was passiert dann aber mit den Tunneln? Firmen wie Siemens stehen sicher schon in den Startlöchern, wenn es darum geht, auf Kosten des Steuerzahlers Alternativen zu entwickeln.
Vor diesem Hintergrund kann es nicht erstaunen, daß in den internen Papieren der Deutschen Bahn fortwährend von „Hand-lungsbedarf“, „Mehrkosten“, erhöhten Kosten“ und „Kostenrisiken“ die Rede ist. Die technisch Verantwortlichen der DB Projektbau GmbH sprechen daher bereits davon, daß das „Gesamtprojekt auf einem kritischen Weg“ sei.

Doch es gibt nicht nur im Bahnbetrieb sicherheitsrelevante Probleme. Der schwäbische Gipskeuper ist ein schlechter Baugrund für Tunnel aller Art. Das Projekt S21 bringe daher „unabwägbare Risiken“ mit sich. Das sagt nicht ein „technophober Grünfink“, sondern ein Mann namens Frei Otto, der „Doyen deutscher Ingenieurskunst“ (FAZ). Zu welchen Folgen geologische Probleme beim Tunnelbau führen können, sah man beim Einsturz des Kölner Stadtarchivs. Natürlich muß es bei sachgemäßer Durchführung nicht zwingend zu sicherheitstechnischen Risiken kommen – die lassen sich durch entsprechende Maßnahmen minimieren. Aber zu welchem Preis? Zusatzkosten wegen der geologischen Rahmenbedingungen sind in keinem Konzept vorgesehen. Oder doch? Die Bundesbahn behandelt die wirtschaftlichen Planungen wie Staatsgeheimnisse. Kein Journalist, ja noch nicht einmal Mitglieder des Verkehrsausschusses des Bundestags haben Einblick in diese Papiere – für ein Unternehmen, daß zu 100% dem Bund gehört, und das für S21 etliche Milliarden aus den Staatskassen beziehen will, ist dies schon ein einmaliges Gebaren.

Kosten
Als sich die Herren, die damals die Fäden der Landespolitik zogen, Mitte der 90er im Weinberghäuschen in der Nähe Stuttgarts trafen, um S21 abzusegnen, sprach man noch von einem Gesamtkostenrahmen von rund 2,5 Milliarden Euro. Den Steuerzahler sollte all dies aber fast nichts kosten, schließlich stellte man in Aussicht, daß sich das Projekt über den Verkauf der freiwerdenden Fläche im Stuttgarter Zentrum und die Hilfe privater Investoren nahezu selbst trage. Aber was zählen schon PR-Träume alter Männer aus alten Tagen. Erwartungsgemäß unterlagen die Kosten des Projekts einer galoppierenden Inflation – bei Bahnprojekten scheint dies der Normalfall zu sein, schließlich scheinen Staatsunternehmen mit Vorliebe Verträge aufzusetzen, in denen die bösen Worte „Kostenabsicherung“ und „Konventionalstrafe“ nicht vorkommen. Daß es auch anders gehen kann, zeigte das Toll-Collect-Desaster – freilich wurden dort bereits Milliarden an Steuergeldern verbrannt, bevor man sich dazu durchringen konnte, einen halbwegs wasserdichten Vertrag aufzusetzen.

Bei S21 galoppierten die Kosten allerdings bereits davon, bevor der erste Spatenstich getan wurde. Im Dezember 2009 bezeichnete Bahnchef Grube die damals aktuellen 4,1 Milliarden Euro noch als absolute Obergrenze. Das sehen Experten freilich ganz anders – eine Berechnung des Bundesrechnungshofs geht von 2,4 Milliarden Euro Mehrkosten aus, ein Gutachten des Umweltbundesamtes nennt sogar die Horrorsumme von 11 Milliarden Euro. Der dumme Bürger zahlt die Rechnung schon, schließlich handelt es sich bei S21 nicht um ein betriebswirtschaftlich durchkalkuliertes, sondern um ein politisches Projekt, wie aus dem Dunstkreis der Befürworter hinter vorgehaltener Hand argumentiert wird. Die Kosten des Einen sind aber immer auch die Einnahmen des Anderen. Wer profitiert eigentlich wirtschaftlich von S21?

Das Schwaben-Kartell
Wer Tunnel bohrt, braucht Bohrgerät. Weltmarktführer für Großbohrmaschinen für den Tunnelbau ist die Herrenknecht AG im schönen baden-württembergischen Schwanau. Im Aufsichtsrat der Herrenknecht AG sitzt Lothar Späth, einer der „alten Herren“, auf deren Mist S21 gewachsen ist. Martin Herrenknecht ist nicht nur ein guter alter Freund von „Cleverle“ Späth, sondern auch ein Nutznießer dessen politischer Netzwerke. So begleitete das CDU-Mitglied Herrenknecht nicht nur Späth, sondern auch dessen Amtsnachfolger und S21-Befürworter Teufel und Oettinger gerne auf Auslandsreisen. Für so viel Protektion zeigte sich Herrenknecht auch stets dankbar, so überwies er beispielsweise im letzten Jahr erst einmal 70.000 Euro an die CDU, um deren Wahlkampf zu unterstützen. Klar, daß man sich im Ländle dankbar zeigt. Schon in seiner Regierungserklärung im Jahre 2008 machte Oettinger klar, daß Herrenknecht in Stuttgart bohren wird. Was wohl Oettingers neue Kollegen im EU-Wettbewerbskommissariat zu derlei kreativem Umgang mit dem Ausschreibungsrecht sagen werden? Für Wirtschaftsminister Ernst Pfister (FDP) steht jedenfalls bereits fest, daß es „zwingend notwendig“ sei, die Herrenknecht AG bei den Ausschreibungen besonders zu berücksichtigen. Da wird sich Martin Herrenknecht aber freuen, beim Alternativprojekt Kopfbahnhof 21 gäbe es nicht viel zu bohren.

Es würde einem Wunder gleichen, wenn die Bauarbeiten am Bahnhofsneubau nicht zu einem großen Teil vom Stuttgarter Bauunternehmen Wolff & Müller vorgenommen würden. Wolff & Müller ist bestens vernetzt – bereits beim Umbau der Porsche-Arena und des ehemaligen Gottlieb-Daimler-Stadions erhielten die Stuttgarter den Zuschlag. Sind Wolff & Müller besonders gut oder besonders günstig? Solche Fragen spielen bei der „Spätzle-Connection“ eher eine untergeordnete Rolle, wenn die lokale Politelite das Sagen hat. Sowohl   bei der  Porsche-Arena als auch beim Gottlieb-Daimler-Stadion heißt der Aufsichtsratsvorsitzende der Besitzgesellschaft Michael Föll. Föll ist Erster Bürgermeister der Stadt Stuttgart mit dem Verantwortungsbereich Finanzen. Natürlich ist auch Föll ein glühender Fan von S21. Pikant nur, daß Föll bis vor kurzem im Beirat von Wolff & Müller saß – eine Tätigkeit, die er – entgegen den Offenlegungsregelungen – jedoch nie publik machte. Die Verbindung flog auf, Föll zog sich aus dem Beirat zurück und bedauert mittlerweile, daß es „zu Irritationen kam“. Ein kleiner – aber nicht eben nachhaltiger – Rückschlag für Wolff & Müller. Beim Abriss des Nordflügels des historischen Bahnhofs kamen die Bagger von Wolff & Müller nämlich bereits zum Einsatz.

Profiteure gibt es viele – vor allem bei der Nutzung des freiwerdenden Raums in der Stuttgarter Innenstadt. Ob sie Rudolf Häussler oder Friederike Beyer heißen – ersterer ist nicht nur Duzfreund von Günther Oettinger und ehemaliger Arbeitgeber von Bahnchef Grube, sondern auch größter europäischer Komplettanbieter von Bürogebäuden und Projektpartner von S21, letztere ist nicht nur die Lebensgefährtin Oettingers, sondern auch Vorstandsmitglied der Stiftung “Lebendige Stadt” der ECE, die im S21-Areal ein riesiges Einkaufszentrum errichten will.

Stadtentwicklung
Wer denkt, S21 sei ein Bahnhofsprojekt, irrt ohnehin. Alle verkehrsinfrastrukturellen Argumente sprechen eindeutig gegen S21. Es gibt jedoch einen ganz gewichtigen Grund, der aus Sicht der Politik und einiger Investoren für S21 spricht. Der eigentliche Startschuß für S21 fiel im Jahre 1994. Damals flog der Bahnchef, der seinerzeit noch den Nachnamen Dürr hatte, mit der Regierungsmaschine nach Bonn und zeigte dem damaligen Verkehrsminister Wissmann zwei Luftbildaufnahmen. Auf der ersten war die Innenstadt Stuttgarts zu sehen, auf der zweiten Aufnahme hatte Dürr die Flächen für Gleise und bahntechnische Anlagen durch Parks und Bürobauten ersetzen lassen – er hatte also die Bahn von der Stuttgarter Oberfläche „wegretuschiert“. Das gefiel Wissmann („Das machen wir!“) natürlich, der bereits von der zweiten Gründung der Stadt Stuttgart träumte. Eine Million Quadratmeter Fläche – mehr als doppelt so groß wie der Vatikanstaat – mitten in bester Citylage, davon träumt natürlich jeder Politiker. Kein Politiker käme allerdings auf die Idee, die Bahninfrastruktur nun deshalb für teures Geld zu vergraben. Nicht so bei den Schwaben, sowohl Landeschef Späth, als auch der Stuttgarter OB Rommel waren sofort mit im Boot.

Aber nicht nur Politik und Wirtschaft waren von Anfang an mit im Boot, sondern auch die Medien. „Ohne die Zustimmung der Stuttgarter Zeitung zu diesem Großprojekt würde, so vermute ich einfach mal, Stuttgart 21 nie gebaut werden“, so der ehemalige Chefredakteur der Stuttgarter Zeitung, Uwe Vorkötter, der mittlerweile bei der BZ untergekommen ist. Vorkötter hat Recht, die Südwestdeutsche Medienholding (SWMH) stand seit den Zeiten des „Weinberghäuschens“ fest hinter S21. Die SWMH verfügt in Stuttgart über eine Art Medienmonopol – nicht nur die Stuttgarter Zeitung, sondern auch die Stuttgarter Nachrichten, der Schwarzwälder Bote und das Flaggschiff Süddeutsche Zeitung gehören zur SWMH. Das Aufstocken der Anteile an der Süddeutschen Zeitung birgt hier für besondere Brisanz. Finanziert wurde der Kauf von der Landesbank LBBW über ein Schulddarlehen in Höhe von 300 Millionen Euro bei fünfjähriger Laufzeit. Die SWMH hat allerdings – nach Angaben des Manager Magazins – offenbar arge Probleme, dieses Darlehen zu tilgen und ist so der LBBW auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Wer kontrolliert die LBBW? Richtig, das Land Baden-Württemberg und die Stadt Stuttgart im Zusammenspiel mit dem Sparkassenverband, der seinerseits personell mit dem S21-Kartell verflochten ist. Da braucht man sich nicht zu wundern, wenn entscheidende Fragen in der lokalen Presse überhaupt nicht gestellt werden. Fragen wie diese: Wem gehören eigentlich die Flächen, die im S21-Konzept zur neuen Nutzung vorgesehen sind?

Wer diese einfache Frage der Bahn oder der Stadt Stuttgart stellt, trifft auf eine Mauer des Schweigens. Nicht ohne Grund, ist ein Teil der Fläche doch gar nicht mehr im Besitz des Staates, sei es über die Stadt, die bundeseigene Bahn, das Land oder den Bund. Als S21 im Jahr 2001 das vorzeitige Aus drohte, kaufte die Stadt Stuttgart – kreditfinanziert – der Deutschen Bahn einen Großteil des Geländes für überschaubare 460 Millionen Euro ab. Aber die Stadt Stuttgart war nicht der einzige Kunde der Bahn.

Von fünfzehn zum Verkauf stehenden Parzellen im Planungssektor A1 sind z.B. acht bereits verkauft, für weitere drei läuft das Bieterverfahren und weitere drei Parzellen werden während der Baumaßnahmen für Baustellenlogistik benötigt und sollen nach Fertigstellung der Arbeiten veräußert werden. Welche Summe für die Parzellen bezahlt wurde? Keine Auskunft. Wer sind die Käufer? Keine Auskunft, man hält sich lieber bedeckt. Jahrelang bot man diese Grundstücke an wie Sauerbier, kaum war S21 vom Bundestag im Haushaltsplan 2009 besiegelt, ging der Run auf die goldenen Claims los. Doch welche Rechtssicherheit haben die Käufer? Was steht im Kleingedruckten, wer ist schadensersatzpflichtig – und in welcher Höhe -, wenn S21 doch noch politisch gestoppt wird?

Klar ist, daß die Flächen größtenteils für gehobene Büro- und Wohnflächen vorgesehen sind. Da Stuttgart nicht unbedingt neuen Büro- und Wohnraum benötigt, wird diese neue Fläche natürlich anderenorts Büro- und Wohnraum freimachen. Im ungünstigsten Fall droht so einigen Stadtteilen die Verödung. Die Wertigkeit der neuen Immobilien in den Parzellen, die nicht direkt auf den Gleisen liegen und bereits veräußert wurden, hängt allerdings ganz direkt mit dem „Erfolg“ von S21 zusammen. Wer will schon eine luxuriöse Eigentumswohnung mit Blick auf die Bahntrasse und mit nicht unerheblicher Lärmbelästigung? Hier wurde das Fell des Bären bereits verteilt, bevor dieser erlegt wurde. Regressansprüche der Neubesitzer sind ein sehr überzeugendes Argument gegen eine Revision der S21-Planungen. Das hat natürlich System, schließlich ist ein „zurück“ politisch nicht vorgesehen, und wenn erst einmal Fakten geschaffen wurden, werden auch die Kritiker verstummen, so die durchschaubare Logik der S21-Planer.

Alternativen und Ausstiegsszenarien
Ist das Projekt S21 überhaupt noch reversibel? Natürlich, es gibt kein Projekt, das bei Veränderung der Vorzeichen nicht reversibel wäre, wie der Ausstieg vom Ausstieg aus der Kernkraft zeigt. Mit dem Gegenentwurf „Kopfbahnhof 21“ steht sogar eine weitaus preiswertere und infrastrukturell bessere Alternative zur Verfügung. Das Problem an K21 ist jedoch, daß die Bahninfrastruktur oberirdisch bleibt und so kein Raum für neue Immobilien entsteht.

Vollkommen unklar sind jedoch die Folgekosten, die ein Baustopp oder gar eine Alternativlösung mit sich brächten. Die „Horrorzahlen“ von drei Milliarden Euro, die aus Kreisen der Befürworter gehandelt werden, sind freilich Luftbuchungen. Ob die Bahn einen Euro an den Bund überweisen muß oder die Stadt an das Land, ist eher von haushalterischem Interesse, da letztlich alle Akteure zu 100% dem Steuerzahler „gehören“. Hätte man die Deutsche Bahn AG planmäßig privatisiert, so wäre auch hier der Steuerzahler das Opfer. Diesen Plänen bereitete die Finanzkrise aber „glücklicherweise“ ein vorzeitiges Ende. Seriöse Schätzungen gehen von einem „Schaden“ von 550 Millionen Euro aus, die vor allem für bereits aufgelaufene Planungskosten anfallen. Das überlegene Konzept „Kopfbahnhof 21“ würde rund 1,2 Milliarden Euro kosten, was auf Gesamtkosten von 1,75 Milliarden Euro hinausliefe. Verglichen mit den Horrorzahlen für S21 ist dies ohne Zweifel die günstigere Variante.

Wenn Land, Bund und Bahn aber unbedingt einen elfstelligen Betrag ausgeben wollen, so haben sie mehr als genug Möglichkeiten dafür – vor allem im Güter- und im regionalen Nahverkehr hat der deutsche Schienenverkehr eher das Niveau eines Entwicklungslands. Aber es ist natürlich nicht so sexy, Gleisbauarbeiten in der Pampa zu veranlassen, wenn man sich alternativ im Scheinwerferlicht eines gigantomanischen „Zukunftsprojekts“ feiern lassen kann. Aus dem Feiern wird jedoch nun nichts, da Öffentlichkeit und Medien die S21-Lüge nach dem Zwiebelprinzip enttarnen – Tag für Tag kommt eine neue Schicht zum Vorschein und Tag für Tag kommen einem erneut die Tränen vor so viel politischer Inkompetenz und Vetternwirtschaft.

 
     
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