Dr. Cornelia Ziehm - September / Oktober 2009

   
 

Die Bundesregierung vollzieht die
sicherheits- und vorsorge orientierten Vorschriften des Atomgesetzes nicht

Gutachterin fordert Stärkung der Atomaufsicht und Umkehr der Beweislast

 
     
 

(D.K.) Den nachstehenden Text habe ich dem Unabhängigen Informatiosndienst zu Radioaktivität, Strahlung und Gesundheit STRAHLENTELEX mit ELEKTROSMOGREPORT, Nr. 536-537, 23. Jahrgang, vom 7. Mai 2009, www.strahlentelex.de entnommen.

Dr. Cornelia Ziehm: Sicherheitsgewinn durch Stärkung der Atomaufsicht - Eine Umkehr der Beweislast ist überfällig, Kurzgutachten im Auftrag von Eurosolar, April 2009, Kurzgutachten.pdf

Das Risiko für Kinder unter fünf Jahren, an Krebs und Leukämie zu erkranken, nimmt zu, je näher ihr Wohnort an einem Kernkraftwerk liegt. Trotz dieser, durch aktuelle Untersuchungen nachgewiesenen Dauergefährdungen, wird nach wie vor keine Schadensvorsorge betrieben, wie sie vom Atomgesetz vorgeschrieben ist. Darauf machte die Europäische Vereinigung für Erneuerbare Energien Eurosolar e.V. zum 23. Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl am 26. April 2009 aufmerksam. In einem von Eurosolar in Auftrag gegebenen Kurzgutachten "Sicherheitsgewinn durch Stärkung der Atomaufsicht" kommt die Anwältin und Expertin für Umweltrecht Dr. Cornelia Ziehm, Berlin, zu dem Schluß: "Der gebotene sicherheits- und vorsorgeorientierte Vollzug des Atomgesetzes findet nicht statt. Eine klare und gesetzlich verankerte Umkehr der Beweislast sowohl für Maßnahmen der Atomaufsicht als auch mit Blick auf die Geltendmachung zivilrechtlicher Haftungsansprüche ist überfällig." Der Staat müsse Konsequenzen da-raus ziehen, daß ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der mit dem Betrieb von Leistungsreaktoren verbundenen Strahlenexposition und dem Anstieg des Erkrankungsrisikos nach Auffassung von Wissenschaftlern nicht ausgeschlossen wird.

"Bei der grünen Gentechnik darf es keinen Sicherheitsrabatt geben, fordert Bundesumweltminister Gabriel im Zusammenhang mit der Debatte um das Anbauverbot der Genmais-Sorte Mon810 zu Recht. Solange nicht hundertprozentig klar sei, dass von einer neuen Sorte keine Gefahr ausgehe, dürfe sie nicht angebaut werden, so der Minister. An eine andere Hochrisikotechnologie, nämlich die Nutzung der Kernenergie, wird dieser Maßstab allerdings nicht angelegt. An die Kernkraftwerksbetreiber werden seitens der Atomaufsicht vielmehr großzügig Sicherheitsrabatte verteilt: So laufen etwa Kernkraftwerke, die unbestritten nicht gegen den Absturz von Passagierflugzeugen und zum Teil nicht einmal gegen den Absturz einer Militärmaschine vom Typ Phantom geschützt sind, ungehindert weiter, während zugleich unter der Überschrift der Terrorgefahr Bürgerrechte massiv und sogar verfassungswidrig beschnitten werden." Das konstatiert die Juristin Dr. Cornelia Ziehm einleitend in ihrem Gutachten.

Aus begründeten Hinweisen darauf, daß die mit dem Betrieb von Kernkraftwerken verbundene Strahlung ursächlich für eine signifikant erhöhte Krebs- bzw. Leukämierate von Kindern unter 5 Jahren in der Umgebung von Kernkraftwerken sein kann, werden von der Atomaufsicht bis heute keinerlei Konsequenzen für den Betrieb der Reaktoren gezogen, rügt Ziehm. 2007 wurde mit der so genannten KiKK-Studie erstmals unter Anwendung eines fundierten wissenschaftlichen Studiendesigns nachgewiesen, daß das Risiko für Kinder unter 5 Jahren, an Krebs bzw. Leukämie zu erkranken, zunimmt, je näher ihr Wohnort an einem Kernkraftwerk liegt. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der mit dem Betrieb von Leistungsreaktoren verbundenen Strahlenexposition und dem Anstieg des Erkrankungsrisikos kann nach Auffassung von Wissenschaftlern nicht ausgeschlossen werden. Schadensvorsorge ist ein zentrales Gebot der Hochrisikotechnologie Kernenergie und ist als solches vom Atomgesetz zwingend vorgeschrieben. Das Atomgesetz lege die Exekutive auf den Grundsatz der bestmöglichen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge fest, erklärt Ziehm. Nur eine laufende Anpassung der für eine Risikobewertung maßgeblichen Umstände an den jeweils neuesten Erkenntnisstand genüge dem Grundsatz einer bestmöglichen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge. Für die Atomaufsicht bedeute das, daß sie sich bei der Beurteilung von Schadenswahrscheinlichkeiten nicht allein auf das vorhandene ingenieurmäßige Erfahrungswissen stützen darf, sondern Schutzmaßnahmen auch anhand bloß theoretischer Überlegungen und Berechnungen in Betracht ziehen muß, um Risiken auf Grund noch bestehender Unsicherheiten und Wissenslücken hinreichend zuverlässig auszuschließen.
Die atomaufsichtliche Praxis sieht indes anders aus, so Ziehm. Trotz Vorliegens eines Gefahrenverdachts oder Besorgnispotentials im Hinblick auf Leben und Gesundheit der Bevölkerung werde den Interessen der Kernkraftwerksbetreiber am Weiterlaufen ihrer Reaktoren regelmäßig Vorrang eingeräumt. Trotz der Ergebnisse der KiKK-Studie finde der gebotene sicherheits- und vorsorgeorientierte Vollzug des Atomgesetzes nicht statt. Eine klare und gesetzlich verankerte Umkehr der Beweislast sowohl für Maßnahmen der Atomaufsicht als auch mit Blick auf die Geltendmachung zivilrechtlicher Haftungsansprüche sei überfällig, um die Handlungsfähigkeit der Atomaufsicht zu gewährleisten bzw. wiederherzustellen. Der Vollzug im Bereich von Hochrisikotechnologien dürfe nicht zum Nachteil von Mensch und Umwelt erfolgen, gleichgültig ob es um Maßnahmen gegenüber einem US-amerikanischen Saatgutunternehmen oder um Maßnahmen gegenüber deutschen Energieversorgungsunternehmen geht. Eine Beweislastumkehr dürfte dabei auch im Interesse der Atomindustrie sein, meint Ziehm. Denn wenn die Kraftwerksbetreiber von der Sicherheit der von ihnen betriebenen Hochrisikotechnologie überzeugt sind, könnten sie die mit der Umkehr der Beweislast verbundene Verantwortungsübernahme nicht ernsthaft scheuen. Sie müßten sie im Gegenteil geradezu als Chance mit Blick auf die Akzeptanzbereitschaft technologiebedingter Risiken begreifen.

Einen "zulässigen Restschaden" gibt es im Gegensatz zum "Restrisiko" nicht
Als eine der zentralen atomrechtlichen Genehmigungsvoraussetzungen verlangt § 7 Abs. 2 Nr. 3 des Atomgesetzes (AtG), daß der Betreiber eines Kernkraftwerkes die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden durch die Errichtung und den Betrieb der Anlage treffen muß, erklärt Ziehm. Diese Pflicht sei dauerhaft zu verwirklichen. Aus der Normierung des gesetzlichen Auflagenvorbehalts in § 17 Abs. 1 AtG folge die Dynamisierung der atomrechtlichen Betreiberpflichten. Das aufsichtliche Handeln sei an denselben Grundsätzen auszurichten, die bereits für die atomrechtlichen Genehmigungsverfahren maßgeblich waren. Daran habe sich durch den Atomkonsens und die anschließende Novellierung des Atomgesetzes 2002 nichts geändert. Für die verbleibende Nutzungsdauer der Kernkraftwerke sei ein hohes Sicherheitsniveau zu gewährleisten. Alles andere wäre mit den Pflichten des Staates aus Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) zum Schutz von Leben und Gesundheit, dem in Art. 20a GG verankerten Staatsziel Umweltschutz sowie dem Vorsorgeprinzip aus Art. 174 EG nicht vereinbar.
Das Bundesverfassungsgericht konkretisierte die atomrechtliche Pflicht zu Schadensvorsorge in seiner Kalkar-I-Entscheidung: "Insbesondere mit der Anknüpfung an den jeweiligen Stand von Wissenschaft und Technik legt das Gesetz damit die Exekutive normativ auf den Grundsatz der bestmöglichen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge fest. (…) Nur eine laufende Anpassung der für eine Risikobewertung maßgeblichen Umstände an den jeweils neuesten Erkenntnisstand vermag hier dem Grundsatz einer bestmöglichen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge zu genügen."
Für die Exekutive bedeutet das, so Ziehm, daß sie sich bei der Beurteilung von Schadenswahrscheinlichkeiten nicht allein auf das vorhandene ingenieurmäßige Erfahrungswissen stützen dürfe, sondern Schutzmaßnahmen auch anhand bloß theoretischer Überlegungen und Berechnungen in Betracht ziehen muß, um Risiken auf Grund noch bestehender Unsicherheiten und Wissenslücken hinreichend zuverlässig auszuschließen. Es müßten auch solche Schadensmöglichkeiten in Betracht gezogen werden, die sich nur deshalb nicht ausschließen lassen, weil nach dem derzeitigen Wissensstand bestimmte Ursachenzusammenhänge weder bejaht noch verneint werden können und daher insoweit noch keine Gefahr, sondern nur ein Gefahrenverdacht oder ein "Besorgnispotential" bestehe. Die Exekutive dürfe sich deshalb auch nicht auf eine "herrschende Meinung" in der Wissenschaft verlassen, sondern müsse - nach Maßgabe des "Besorgnispotentials" - alle vertretbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse in Erwägung ziehen.
Mit dem zu ermittelnden Kenntnisstand innerhalb der Nuklearforschung zu abstrakten und konkreten Risiken - so klein sie auch sein mögen - enthalte der Standard des Standes von Wissenschaft und Technik ein objektiv-deskriptives Element. Daneben sei dem Stand von Wissenschaft und Technik eine Einschätzung der Erforderlichkeit des Risikoschutzes, das heißt eine Wertentscheidung, welches Risiko so gering ist, daß man es vernachlässigen darf, immanent. Das Atomrecht und die dazu ergangene Rechtsprechung lasse es deshalb zu, daß die Eintrittswahrscheinlichkeit von Schäden unterhalb einer bestimmten Schwelle ignoriert werden dürfen und bei der Nutzung der Kernenergie ein so genanntes Restrisiko hinzunehmen ist. Einen "zulässigen Restschaden", also gleichsam von der Allgemeinheit hinzunehmende Schäden an Leben, Gesundheit oder Vermögen, gebe es dagegen nicht.

Ein Verweis auf Therapiemöglichkeiten stünde im Gegensatz zum Vorsorgeprinzip
Mit den Ergebnissen der KiKK-Studien, so Ziehm, liegen nun neue wissenschaftliche Erkenntnisse vor, wonach in der Umgebung von Kernkraftwerken die Kinderkrebsraten signifikant erhöht sind. Ein kausaler Zusammenhang zwischen der Strahlenexposition der Bevölkerung durch den Betrieb der Leistungsreaktoren und dem festgestellten Anstieg des Erkrankungsrisikos könne nicht ausgeschlossen werden. Im Falle einer (Mit)Ursächlichkeit von Strahlung für die zusätzlichen Krebserkrankungen in der Umgebung von Kernkraftwerken bedeuteten diese Erkrankungen kein Restrisiko, sondern nicht hinnehmbare Schäden an Leben und Gesundheit. In Anbetracht der tatsächlich signifikant erhöhten Kinderkrebsraten hätte sich - bei Annahme eines entsprechenden Zusammenhangs - ein mit dem Betrieb eines Kernkraftwerkes verbundenes Risiko bereits in einem Schaden manifestiert.

Ein Verweis auf etwaige Therapiemöglichkeiten vermag laut Ziehm daran auch nichts zu ändern, stünde er doch offensichtlich in Widerspruch zum Vorsorgeprinzip. Denn dessen Ansatzpunkt sei stets und notwendig die möglichen Ursachen für einen Schadenseintritt. Es gehe um Schadensvermeidung, nicht um Schadensreparatur - erst recht, wenn die Schutzgüter Leben und Gesundheit in Frage stehen.

Auf die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse müsse nun (siehe die Kalkar-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts) nach dem Grundsatz der bestmöglichen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge reagiert werden. Die Atomaufsicht müsse Schutzmaßnahmen auch anhand bloß theoretischer Überlegungen und Berechnungen in Betracht ziehen, um Risiken auf Grund noch bestehender Unsicherheiten und Wissenslücken hinreichend zuverlässig auszuschließen. Sie müsse auch dann handeln, wenn "nur" ein Gefahrenverdacht oder ein Besorgnispotential besteht.

So aber liegt es gerade hier in Anbetracht der unstreitig erhöhten Kinderkrebsraten in der Umgebung von Kernkraftwerken und eines nicht auszuschließenden Ursachenzusammenhangs zwischen Strahlungsexposition und Erkrankungsrisiko. Dabei sei zudem relevant, so Ziehm, daß die Strahlenempfindlichkeit von Kleinkindern sowie von Feten und Embryos mit großer Wahrscheinlichkeit wesentlich höher als die erwachsener Menschen ist.

Versäumnisse der Atomaufsicht
Tatsächlich sind seitens der Atomaufsicht nach Veröffentlichung der KiKK-Studie keinerlei Maßnahmen unternommen worden, um das mögliche Risiko zusätzlicher kindlicher Krebs- bzw. Leukämieerkrankungen infolge der mit dem Betrieb von Leistungsreaktoren verbundenen Strahlenexposition auszuschließen oder immerhin zu minimieren, rügt Ziehm. Es habe weder nachträgliche Anordnungen gemäß § 17 Abs. 1 AtG noch einstweilige Stilllegungen nach § 19 Abs. 3 Nr. 3 AtG gegeben, um eine Klärung der (Mit)Ursächlichkeit oder der Nichtursächlichkeit von Strahlung für die erhöhten Kinderkrebsraten zu ermöglichen, ohne jedoch gleichzeitig bei einem uneingeschränkten Weiterbetrieb der Leistungsreaktoren eventuelle zusätzliche Krebs- bzw. Leukämieerkrankungen in Kauf zu nehmen. Die Betreiber von Kernkraftwerken seien auch nicht in die Pflicht genommen worden, sich an der Ursachenforschung zu beteiligen. In Anbetracht der Ergebnisse der KiKK-Studie und der Indizien für die besondere Strahlenempfindlichkeit von Kleinkindern und ungeborenen Kindern liege jedoch ein Gefahrenverdacht, mindestens aber ein Besorgnispotential vor. Daß nach dem strahlenbiologischen Wissensstand ein bestimmter Ursachenzusammenhang nicht bejaht werden könne, ändere an dieser Bewertung nichts, sondern sei im Gegenteil gerade einem Gefahrenverdacht oder Besorgnispotential immanent. Indem die Atomaufsicht unterhalb der Schwelle des Nachweises bestimmter Ursachenzusammenhänge, aber trotz Vorliegens eines Gefahrenverdachts oder eines Besorgnispotentials gegenüber den Kraftwerksbetreibern untätig bleibt, begebe sie sich ihrer Handlungsfähigkeit - zu Lasten von Mensch und Umwelt.

Eine Beweislastumkehr ist dem deutschen Recht nicht fremd
Es sei mit dem Vorsorgeprinzip und der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 GG unvereinbar, daß Kernkraftwerke in Deutschland trotz Bestehens eines relevanten Gefahrenverdachts oder Besorgnispotentials in der Praxis bis zum Nachweis eines maßgeblichen Sicherheits- oder Vorsorgedefizits uneingeschränkt weiter betrieben werden können. Das sei allein in Anbetracht des Schadenspotenzials nicht hinnehmbar und es sei erst recht bedenklich, weil bei einer solchen Beweislastverteilung zwischen Staat und Kernkraftwerksbetreibern Verzögerungen seitens der Betreiber bei der Mithilfe zur Aufklärung eines Gefahrenverdachts oder Besorgnispotentials nicht etwa zu Lasten eben dieser Betreiber gehen, sondern im Gegenteil auch noch belohnt werden, kritisiert Ziehm. Denn während die Aufklärung möglicherweise eklatanter Sicherheits- oder Vorsorgedefizite verzögert und hinausgeschoben werde, laufe das fragliche Kernkraftwerk einfach weiter und fahre seinen Betreibern beträchtliche Millionengewinne ein.

Es bedarf daher einer klaren und ausdrücklichen Umkehr der Beweislast im Atomrecht, fordert Ziehm. Die Beweislastverteilung könne nicht länger zuungunsten von Sicherheits- und Vorsorgeaspekten erfolgen. "Non liquet"-Situationen (in denen keine Klarheit über Tatsachen besteht) dürften nicht länger zu Lasten von Mensch und Umwelt gehen. Dies gelte es auch gesetzlich zu verankern.

Die Konkretisierungen, die Schadensvorsorge und Vorsorgeprinzip für die Nutzung der Kernenergie durch die höchstrichterliche Rechtsprechung erfahren haben, genügten offensichtlich für die aufsichtliche Praxis nicht, findet Ziehm. Eine Beweislastumkehr sei dem deutschen Recht auch keineswegs fremd. In Zivilprozessen müsse zwar grundsätzlich derjenige, der einen Anspruch durchsetzen will, das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen nachweisen (§ 286 der Zivilprozeßordnung (ZPO)). Dem Anspruchsteller obliege also die Beweislast und könne dieser die entsprechenden Beweise nicht erbringen, gehe das zu seinen Lasten, seine Klage wird abgewiesen. Diese Beweislastverteilung sei regelmäßig auch im Rahmen von Verwaltungsprozessen maßgeblich. Abweichende Regeln seien indes in Fällen entwickelt worden, in denen die Gegenseite aus der Natur der Sache heraus einen maßgeblichen Wissensvorsprung hat oder der Anspruchssteller einen Kausalitätsnachweis auf Grund komplexer tatsächlicher Gegebenheiten schlichtweg nicht zu führen vermag. Richterrechtliche Regeln zur Beweislastumkehr kenne ferner die Arzt- und Produzentenhaftung sowie die Produkthaftung. Auch das Umweltrecht kenne Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr. Beispielsweise genüge im Bodenschutzrecht bereits der hinreichende Verdacht einer schädlichen Bodenveränderung oder einer Altlast, um die verantwortlichen Personen durch behördliche Anordnung zur Durchführung der notwendigen Untersuchungen zur Gefährdungsabschätzung zu verpflichten (§ 9 Abs. 2 BBodSchG).

Und grundlegend sei das neue europäische Chemikalienrecht REACH (Registration, Evaluation, Authorization of Chemicals). Zwar verwende die REACH-Verordnung den Begriff der Beweislast nicht explizit, in der Sache seien staatliche Stoffverbote oder -beschränkungen mit REACH aber weitgehend vom Nachweis möglicher Schäden für Mensch und Umwelt befreit worden, während sie zuvor nach der Altstoffverordnung (EWG) Nr. 793/93 von umfassenden staatlichen Risikobewertungen abhängig waren. Nach dieser Verordnung konnte die Chemieindustrie bis zum behördlichen Nachweis eines von einem Stoff ausgehenden unakzeptablen Risikos für Mensch und Umwelt diesen Stoff weiter produzieren und in den Verkehr bringen. Für die Chemieindustrie habe es vor REACH folglich keinerlei Anreizstruktur für eine zügige Datenerstellung und -übermittlung über die produzierten Stoffe und deren Eigenschaften gegeben. Die betroffenen Hersteller wurden im Gegenteil sogar eher davon abgehalten, dem Staat Informationen zu liefern, da sie auf diese Weise überhaupt erst eine Risikobewertung ermöglichten und sich damit der "Gefahr" von Regulierungsmaßnahmen aussetzten, während diejenigen, die untätig blieben und keine Prüfdaten an die staatlichen Stellen übermittelten, ihre Stoffe weiter vermarkten durften. Auch im Chemikalienrecht sei es also so gewesen, daß Verzögerungen seitens der Industrie belohnt wurden. Mit REACH sei nun dagegen die Hauptlast für die stofflichen Risikobewertungen der Industrie auferlegt worden. Dieses Verständnis müsse sich auch bei atomrechtlichen Fragestellungen widerspiegeln, fordert Ziehm. Denn daß das von Kernkraftwerken ausgehende Gefährdungspotential mindestens dem von Chemikalien und Altlasten ausgehenden vergleichbar ist, werde niemand ernsthaft bestreiten.

In Umwelthaftpflichtprozessen ist es gerade der Kausalitätsbeweis, der nahezu unüberwindbare Hindernisse für die Geschädigten darstellt, erklärt Ziehm.§6 Abs. 1 UmweltHG trage diesen Bedenken Rechnung und sehe nunmehr eine Kausalitätsvermutung vor. Diese Kausalitätsvermutung greife allerdings dann nicht, wenn der Betreiber einer Anlage nachweist, daß diese bestimmungsgemäß betrieben worden ist (§ 6 Abs. 2 S. 1 UmweltHG). Der rechtmäßige Normalbetrieb werde also privilegiert. Zwar ändere der Nachweis des Normalbetriebs nichts daran, daß ein Anlagenbetreiber der Gefährdungshaftung nach dem Umwelthaftungsgesetz unterliegt, der Nachweis des rechtmäßigen Normalbetriebs bewirke aber den Ausschluß der Kausalitätsvermutung. Im Ergebnis habe damit die Gefährdungshaftung für den rechtmäßigen Normalbetrieb ihre Bedeutung weithin verloren. Bezogen auf an Krebs bzw. Leukämie erkrankte Kinder in der Umgebung von Kernkraftwerken bedeute das, daß sie bzw. ihre Eltern selbst auf der Grundlage des geltenden Umwelthaftungsgesetzes keine Möglichkeit hätten, zumindest Schadensersatzansprüche geltend zu machen.

Fazit
Die Konkretisierungen, die Schadensvorsorge und Vorsorgeprinzip für die Nutzung der Kernenergie durch die höchstrichterliche Rechtsprechung erfahren haben, genügen offensichtlich für die aufsichtliche Praxis nicht, so Ziehm. Die Beweislastverteilung im Atomrecht könne jedoch nicht länger zuungunsten von Sicherheits- und Vorsorgeaspekten erfolgen. "Non liquet"-Situationen dürften nicht länger zu Lasten von Mensch und Umwelt gehen. Der Staat müsse Konsequenzen daraus ziehen, daß das Risiko für Kinder unter 5 Jahren, an Krebs bzw. Leukämie zu erkranken, unbestritten zunimmt, je näher ihr Wohnort an einem Kernkraftwerk liegt, und ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der mit dem Betrieb von Leistungsreaktoren verbundenen Strahlenexposition und dem Anstieg des Erkrankungsrisikos nach Auffassung von Wissenschaftlern nicht ausgeschlossen werden kann. Den Interessen der Kernkraftwerksbetreiber am ungehinderten Weiterbetrieb ihrer Reaktoren dürfe nicht länger Vorrang eingeräumt werden. Eine klare und gesetzlich verankerte Umkehr der Beweislast für Maßnahmen der Atomaufsicht sei überfällig, um die Handlungsfähigkeit der Atomaufsicht zu gewährleisten bzw. wiederherzustellen. Parallel sei eine entsprechende Regelung mit Blick auf die Geltendmachung zivilrechtlicher Haftungsansprüche durch erkrankte Kinder bzw. ihre Eltern festzuschreiben.

 
     
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