Tom Odebrecht - Juli / August 2009

   
 

> Meine Leserbriefe haben Klasse <
Die Geschichte des 102-jährigen
Tageblatt-Lesers Enrique Heymann

 

 
     
 

(D.K.) Das ARGENTINISCHE TAGEBLATT hat Ende April d.J.  den 120. Jahrgang seines Erscheinens gefeiert. Anlaßlich dieses Jubiläums erschien in der Ausgabe vom 29. April d.J. der nachfolgende Beitrag von Tom Odebrecht.

Enrique Heymann lernte ich über das ARGENTINISCHE TAGEBLATT kennen, als ich vor einigen Jahren einen Leserbrief von ihm aus dieser deutschsprachigen argentinischen Zeitung abdruckte. Herr Heymann wurde Abonnent des Kommentar- und Informationsbriefes NEUE POLITIK. 
Inzwischen hat mich auch eine seiner Töchter in Berlin  besucht. Wir haben uns unterhalten und einen Kaffee miteinander getrunken.

Sein Buch Ein- und Ausfälle eines Hundertjährigen habe ich das erste Mal in der Januar-Ausgabe 2007 des Kommentar- und Informationsbriefes NEUE POLITIK vorgestellt. Das Buch ist eine Sammlung seiner Leserbriefe im ARGENTINISCHEN TAGEBLATT, die manchmal nur zu verstehen sind, wenn man etwas über die argentinische Geschichte und Politik weiß.

Ich habe das Buch von Enrique Heymann  nachwievor im Angebot und würde mich über Bestellungen freuen.

Buenos Aires - >Es ist eine Villa, die werden sie sofort erkennen< waren seine Worte am Telefon. Langsam gehe ich die Straße im vornehmen Stadtteil Coghlan hinab und suchte nach dem größten Haus, das ich sehen kann. Als ich vor der richtigen Hausnummer stehen bleibe, schaue ich verwundert auf das Gebäude: Eher ein einfaches Haus, aber eine Villa ist es nun wirklich nicht. Es sollte nicht der letzte Scherz sein, über den ich mich während meines durchaus ernsten Gespräches mit dem wohl ältesten, und vielleicht sogar treuesten, Tageblatt-Lesers Enrique Heymann (102) amüsieren sollte. Ich bin unmittelbar davor Zeuge und Protagonist einer lehrreichen und äußerst unterhaltsamen Konversation zu werden. Eine Unterhaltung über persönliche Schicksale, zu Unrecht abgelehnte Leserbriefe und besoffene Bolivianer. Und die aktuelle Politik wurde auch nicht ausgespart. Eine solche Bandbreite kann man wohl nur mit der Lebenserfahrung von 102 Jahren bieten.

Von Berlin nach Buenos Aires
Gemütlich sieht es aus im Wohnzimmer des Herrn Heymann, auch wenn nicht abzustreiten ist, daß den modischen Entwicklungen der Innenarchitektur in den letzten Jahrzehnten wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Neben dem alten Klavier, auf dem Heymann nach eigener Aussage jeden Tag spielt, liegt ein Buch, welches sofort meine Aufmerksamkeit auf sich zieht: Es trägt den Titel «Juden in Berlin». Natürlich frage ich nach. «Im Jahre 1933 bin ich und ein paar nahe Familienangehörige vor den Nazis aus meiner Heimatstadt Berlin und Deutschland geflohen», kommentiert er und berichtet über die Flucht nach Litauen, der ersten Station auf seiner Reise um die Welt. Von Litauen ging es kurz darauf nach Palästina, was damals noch von der britischen Krone regiert wurde. Dort habe er drei Jahre lang als Maurer gearbeitet, was natürlich eine gewaltige Umstellung vom Alltag in der Berliner Bank, seinem früheren Arbeitsplatz, gewesen sei, erklärt Heymann mit demonstrativer Gelassenheit.

Aber Herr Heymann wäre nicht er selbst, wenn er nicht immer wieder versuchen würde, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Während ich noch versuche, weiter in der Vergangenheit Heymanns zu bohren, ist mein Gesprächspartner schon längst bei seinen eigenen Themen: Er habe ein Buch geschrieben, welches seine besten und witzigsten Leserbriefe an die Redaktion des Argentinischen Tageblattes beinhalte, erklärt mir Herr Heymann. >Ich bin gewiss nicht eingebildet, aber meine Leserbriefe haben einfach Klasse. Die muß man drucken<, sagt er als er mir meine eigene Kopie seines Werkes >Ein und Ausfälle eines Hundertjährigen< übergibt. Später, nach eingängigem Studium des Buches, weiß ich, daß sich tatsächlich nicht wenige äußerst geistreiche Kommentare zu aktuellen Nachrichten in dem Buch befinden. Weiter erfahre ich, daß >skandalöserweise< sogar einige seiner Briefe von der Redaktion des Tageblattes abgelehnt wurden. >Da mag mich einer in der Redaktion nicht, glaube ich<, sagt Heymann schmunzelnd, während er sich in aller Ruhe einen Schluck Kaffee gönnt.

Nach mehrmaligen Nachfragen kommen wir wieder auf das eigentliche Thema zu sprechen: Heymanns Reise um den Erdball mit der Endstation Buenos Aires. Während seiner Zeit als Handwerker im Nahen Osten hatte der gebürtige Berliner von einem deutsch-jüdischen Unternehmer erfahren, der Arbeitskräfte für seine Zinkminen in Bolivien anheuert. >Damals war das eine große Chance für viele jüdische Flüchtlinge<, versucht Heymann mir seinen Schritt über den Atlantik verständlich zu machen. Zwölf Jahre hat er dort in Bolivien, in der östlichen Provinz Oruro, in dem Büro einer Zinkmiene des deutschen Entrepreneurs gearbeitet. >Das Arbeitsleben war hart in Bolivien, aber ich habe ja drinnen gearbeitet. Da hat man es aushalten können<, sinniert er über alte Zeiten. Und wie haben es die Bolivianer mit der Knochenarbeit ausgehalten? frage ich. Die Antwort schallt mir noch jetzt in den Ohren: >Das weiß ich auch nicht, aber die Bolivianer waren sowieso immer besoffen. Das hat wahrscheinlich geholfen<. Ein Augenzwinkern zeigt mir, wie die Antwort einzuschätzen ist. Nach den vielen Jahren habe er nur noch weg gewollt aus Bolivien, sagt der alte Herr. >Wie übrigens auch die Bolivianer, nur die können ja nicht<, fügt er trocken hinzu. Daß es dem greisen Herrn nicht an verbaler Schlagfertigkeit mangelt, steht außer Frage.

In die argentinische Hauptstadt hat es Heymann im Jahre 1948 verschlagen, ohne einen Pfennig in der Tasche, wie er betont. Die solidarische Unterstützung jüdischer Hilfsgemeinschaften hat ihm einen Neuanfang in Buenos Aires ermöglicht. Durchgeschlagen hat sich Heymann mit verschiedenen Jobs, bis er am Ende wieder in einer Bank gelandet ist, nur diesmal am anderen Ende der Welt. Hier in der Stadt am Rio Plata habe er auch seine spätere Frau, eine deutschstämmige Jüdin aus der ehemaligen Tschechoslowakei, kennengelernt, berichtet er. 51 Jahre war er mit ihr verheiratet, bis sie vor einigen Jahren verstorben ist.

Noch heute spricht seine gesamte Großfamilie in Argentinien Deutsch, vom Urenkel bis zur eigenen Tochter. Er habe darauf bestanden, daß alle Familienmitglieder der deutschen Sprache mächtig sind, räumt Heymann ein. Obwohl er nach seiner Flucht nur vier Mal Deutschland wieder besucht hat, ist die Verbundenheit zur Heimat nie verloren gegangen. An Deutschland schätze er seit jeher die reiche Kultur und natürlich die Sprache: >Die deutsche Sprache ist ein Kulturgut, das es zu bewahren gilt<. Und auch das Tageblatt helfe ihm seine Verbundenheit mit der Muttersprache zu bewahren, fügt Heymann hinzu.

Von Cristina bis Angela
Fragt man ihn über seine politische Meinung, stellt man schnell fest, daß er immer noch sehr gut über die aktuellen Geschehnisse unterrichtet ist, ob in Deutschland oder in Argentinien. Beim Versuch seine Einschätzung über die hiesige politische Lage einzufangen, werde ich kurzerhand unterbrochen: >Alle korrupt!<. Das Urteil fallt vernichtend aus. >Das fatale Ehepaar Kirchner hat es geschafft, das bißchen Vertrauen der Menschen in das politische System dieses Landes wieder zu verlieren<, meint Heymann erbost, wobei er zugibt, daß die Ernennung Cristina Kirchners zur Präsidentin wahrscheinlich das kleinere Übel gewesen sei. Korruption, Mißtrauen und allgemeines Desinteresse an der Politik seien die größten Probleme der politischen Kultur hier im Lande, erklärt er. Zum Glück sei das nicht überall so.

Seine Bewertung der deutschen Politiklandschaft, und besonders der jetzigen Regierung, fällt daher ungleich positiver aus: >Die Merkel macht das ganz gut, finde ich. Sie hat ihren eigenen Stil gefunden und läßt sich nicht reinreden.< Mit Bezug auf die im September stattfindende Bundestagswahl wollte Heymann aber auch mit 102 Jahren Lebenserfahrung keine Prognose abgeben: >Das ist schwer vorherzusagen. Man wird die Zeit bis zum September abwarten müssen, es kann noch viel passieren<. Ich stimme nickend zu. Dieser alte Herr in seinem Haus in Coghlan ist besser informiert als so mancher Student an der UBA.

Heymann betont immer wieder, wie sehr ihm das Tageblatt nach so vielen Jahrzehnten ans Herz gewachsen ist. Jeden Samstag liest er mit Genuss die aktuelle Ausgabe. Und jeden Samstag sei er uneins mit den politischen Kommentaren des Chefredakteurs, sagt er lachend.

Dennoch merke ich, daß das Tageblatt fester Bestandteil des Lebens von Enrique Heymann ist. >Denn unter Freunden darf man auch mal unterschiedlicher Meinung sein<, stellt er klar, während er mir am Ende unseres Gespräches zum Abschied die Hand reicht. Kurz bevor ich seine >Villa< verlasse, ruft er mir noch hinterher, daß er sich besonders auf die Jubiläumsausgabe freue, die mit seiner Geschichte drin. Die Geschichte über den wohl ältesten Tageblatt-Leser aller Zeiten. Auf daß er sich noch auf viele weitere Tageblatt-Ausgaben freuen kann.

 
     
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