Dieter Kersten - Mai 2000    
Editorial    
     
 

Liebe Mitstreiterinnen, liebe Mitstreiter, sehr geehrte Damen und Herren,

sind die Themen im Mai 2000 in Deutschland tatsächlich nur Urlaub und Aktien? Gibt es in Deutschland (genug?) soziales Elend, eine »kritische Masse« für sozial-politische Explosionen? Wie steht es mit der Kultur der Deutschen in Deutschland? Welchen Inhalt geben wir dem Wort Freiheit? Freie Wirtschaft oder gelenkte Wirtschaft ˆ la Drittes Reich, DDR und multinationaler Konzerne ? Oder: der/die Einzelne kann tun und lassen was er/sie will? Freiheit also von Kultur (Moral?) ? Haben wir Deutschen noch so viel Kultur, um zu integrieren und selbst integrationsfähig zu sein? Hinken unsere Denkweisen, hier Unternehmer (Arbeitgeber?), dort Lohn- (Gehalts-) Abhängige, der Realität hinterher, schon deshalb, weil die Unternehmer immer weniger werden und die auswechselbaren und dadurch verantwortungsarmen Manager immer mehr? Ist das soziale Netz in Deutschland nicht für die meisten Nutzer eine Hängematte? Haben wir nicht alle in Kopf und Herz das Geld zum Maßstab aller Dinge gemacht, ohne überhaupt zu wissen, was Geld ist? Sind wir ein Volk von Lotto-Spielern an der Börse und im Zahlenlotto (Klassenlotterie) geworden? Wie bändigen wir diese ungeheure Masse an Geld, die unseren Globus von Börsenplatz zu Börsenplatz umkreist und der keine Leistung gegenüber steht? Ist dieses Geld nicht bestenfalls durch Leistung Dritter entstanden und wird es nicht als Blut den Nationalwirtschaften, dem ureigensten Kreislauf, entzogen? Wie gestalten wir Demokratie in der Nach- Kohl- und in der Nach-Schröder-Gesellschaft? Oder - besser formuliert - in der Nach-Parteien- Gesellschaft?

Fragen über Fragen, die auf Europa auszudehnen sind. So z. Bsp. auch -wollen wir ein Europa der Waffen- und Munitionslieferanten bleiben oder lieber ein Europa der Baumpflanzer (wie jetzt in Gnesen anl. eines Treffens der EU-Ministerpräsidenten mit dem poln. Kollegen praktiziert) werden? Wollen wir ein Europa der (nicht kontrollierbaren) Bürokratien, oder, frei nach De Gaulle (franz. Präsident von 1958 bis 1969), der durch und durch demokratischen europäischen Vaterländer? Wird das »Brüsseler« Europa besser, wenn es sich Osteuropa einverleibt?

Oder auch -was geschieht z. B. mit Afrika, dem von Europa geschundenen Kontinent ? Was machen wir angesichts der Katastrophe z.B. in Mosambik und Äthiopien mit unserem Dauerthema Umweltschutz/Klimaschutz ?

Und -überprüfen wir endlich unsere hochbezahlten Wissenschaften, insbesondere die Naturwissenschaften im weitesten Sinne, um eine Wende im Zusammenleben der Menschen zu erreichen?

Die Fragen sind nicht komplett und bedürfen vieler geistvoller Antworten. Und vor allen Dingen auch einer zupackenden Praxis. Ich kann immer nur versuchen, ein publizistisches Forum anzubieten.

Nun zu den Niederungen der Tagespolitik: Die Autonomen, die rechtsradikale NPD und die Gewerkschaften bilden am 1. Mai weder zusammen noch einzeln die »kritische Masse« sozialpolitischer Auseinandersetzungen. Die Autonomen, zusammen mit den selbsternannten Antifaschisten (Antifa) und die NPD geben der Oligarchie, den herrschenden Parteien und der rigorosen »Herrschaft der Bürokratie« nur Anlaß, die Daumenschrauben gegenüber dem Staatsvolk weiter anzuziehen. Die Autonomen, Antifa und die Rechtsradikalen veranstalten völlig unpolitische Krawalle und verdecken damit ihr Unvermögen, die harte Arbeit demokratischer und sozialer Veränderungen zu leisten. Sie haben keine Vorstellungen von notwendigen politischen und sozialen Veränderungen.

Was das heißt, das hat mein Vorgänger Wolf Schenke und das habe ich immer wieder versucht, anzuregen: mehr Demokratie durch Volksabstimmungen und durch eine Ergänzung des parteiistischen Systems durch ständige Volksversammlungen in politischen Nachbarschaften (Artur Mahraun), ein Geldwesen, welches dem Geld den Warencharakter nimmt und somit der Spekulation entzieht (Silvio Gesell, Rudolf Steiner), ein gedankliche und organisatorische Trennung von Kultur, Wirtschaft und (allgemeiner) Politik (Rudolf Steiner).

In der Wochenzeitschrift FREITAG vom 3. März lese ich unter der Überschrift Glanz und Elend in einem Beitrag von Kraft Wetzel die zwei Sätze: Das kleine schmutzige, fast schon obszöne Geheimnis der spätkapitalistischen Konsumgesellschaft ist, daß fast alle mit den Lügen einverstanden sind. Man läßt sich gerne belügen - und man zahlt gutes Geld dafür.

In der Berliner Tageszeitung DER TAGESSPIEGELvom 29. April berichtet Markus Hesselmann von der Klage des Staatspräsidenten von Mosambik, Joaquim Chissano, der zum Wirtschaftsforum Afrika nach Berlin gekommen war, daß Bundeskanzler Schröder zwar seine Rede vor den afrikanischen Vertretern hielt, dann aber verschwand. .. die deutsche Regierung, bemängelte Chissano gestern mit Blick auf Kanzler Gerhard Schröder, habe kaum Zeit für ihre afrikanischen Kollegen gehabt. Er könne nicht verstehen, daß die Deutschen ihre Reden halten, und dann verschwinden, ohne den Beiträgen der Afrikaner zuzuhören. »da kann es zu keinem Dialog kommen«, ... . Ich kann den Ärger voll und ganz nachvollziehen. Ich war vor ein paar Wochen auf einem Wochendseminar, auf dem zwei Bundestagsabgeordnete sich selbst darstellten - insbesondere der >grüne< Abgeordnete konnte das besonders gut -, und sich dann verabschiedeten, ohne überhaupt einem der Referenten zugehört zu haben. Keine Zeit, so hieß es, und so werden wir unser Schicksal selbst in die Hand nehmen müssen und es ohne Bundestag und Bundesregierung lösen.

Wenn Politiker keine Zeit haben, zuzuhören, dann wird ihnen auch entgehen, daß alte Krisenherde wieder neu entzündet werden. Der emeritierte Berliner Professor Dr. Ekkehart Krippendorff berichtete in einem Rundfunkinterview am 14. März über seinen Besuch in der Volksrepublik China und sagte u.a., daß sich das Riesenland auf einen Krieg mit den USA vorbereitet. Kurz darauf besuchte der us -amerikanische Verteidigungsminister Cohen die Volksrepublik Vietnam. In diesen Tagen ist der Vietnam-Krieg wieder in aller Munde, ein Krieg, den die Amerikaner vor 25 Jahren verloren haben. Drei Millionen Vietnamesen haben in diesem Krieg ihr Leben lassen müssen, 58 000 usamerikanische Soldaten sind in diesem Krieg gefallen. Trotzdem gehen beide Länder aufeinander zu. Das hat nichts mit »innerer Größe« der Völker und ihrer Politiker zu tun. Die USA suchen nach Verbündeten gegen China und sie wissen, daß China aus historischen Gründen in Vietnam nicht nur Freunde hat. Das geplante Treffen der beiden koreanischen Präsidenten im Juni d. J. ist nach meiner Ansicht unter dem gleichen politischen Gesichtswinkel zu sehen. Südkorea, wirtschaftlich zutiefst angeschlagen, in vieler Hinsicht abhängig von den USA, ist beauftragt, den ungeliebten, sozialistisch-wirtschaftlich völlig heruntergekommenen, nordkoreanischen Bruder anzusprechen und ihm sogar auf die Wohlstands-Sprünge zu helfen. Auch das geschieht mit dem historisch-scheelen Blick auf China, dem Korea neben Japan lange Zeit tributp.ichtig war.

Mit freundlichen Grüßen

Dieter Kersten

abgeschlossen am 10. Mai 2000

 
     
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