Dieter Kersten - November / Dezember 1998    
Editorial    
     
 

Liebe Mitstreiterinnen, liebe Mitstreiter, sehr geehrte Damen und Herren,

Kontinuität ist das große (Ent-) Zauberwort der deutschen Politik. Ich habe dieses politische Unwort nie so oft gehört, wie nach den Wahlen vom 27. September, und zwar sowohl von den neuen Koalitionären SPD und Bündnis 90/Die Grünen wie auch von der neuen Opposition CDU/ CSU. Die Beschwörung der Kontinuität von Politik auf dem Parteitag der CDU am 7. November ist eines der letzten Beispiele.

Kontinuität ist deshalb ein politisches Unwort, weil sich zu keiner Zeit damit ein politisches Problem lösen läßt. Die Regierung Kohl/Waigel /Kinkel ist doch abgewählt worden; weil sie es nicht vermocht hat, die konjunkturellen und strukturellen wirtschaftlichen Probleme zu lösen und damit die Arbeitslosigkeit zu beenden; sie hat es nicht fertig gebracht, das soziale Netz durch Eigenverantwortung zu ergänzen; sie wollten nicht die europäische Zentralisierung durch dezentrale Strukturen zu ersetzen; sie wollten nicht der Globalisierung die Regionalisierung entgegenzustellen; sie waren nicht willens, die Funktion der Bundeswehr neu zu bestimmen oder sie abzuschaffen. Der Gedanke war Ihnen fremd, eine eigenständige deutsche oder europäische Außenpolitik durchzusetzen, die der zur Zeit einzigen Weltmacht, der USA, die notwendigen Grenzen einer absoluten Weltherrschaft setzt und die alte Regierung hat es nicht geschafft, Deutschland zu demokratisieren.Die Liste kann fortgeführt werden.

In der Umkehrerwartung wollen die Wähler von der neuen Regierung Schröder/ Fischer die Lösung, die Erledigung der anstehenden politischen Probleme und nicht Kontinuität. Es wäre ja fast zu verschmerzen, wenn die neue Regierung sagen würde, wir müssen uns erst einarbeiten, obwohl, ehrlich gesagt, sie doch alle Profis sind, denn sie sind doch alle, hoffentlich, irgendwo ihrer Aufgabe als Opposition nachgekommen und haben im Parlament die alte Bundesregierung kräftig kontrolliert. Sie kennen also z.B. die aktuellen und zukünftigen Steuerzahlen. Wenn sie geschlafen haben, dann sind sie zur Regierung nicht fähig.

Ich will nur mit drei Beispielen, so unzureichend sie sein mögen, schlaglichtartig erhellen, was ich meine.

Lafontaine verkündete: Regulierung statt Deregulierung. Soll die Gängelung, d.h. die Bürokratisierung, noch zunehmen? In der Wochenzeitschrift FREITAG vom 16. Oktober wird von der 35jährigen Damenschneiderin und Modedesignerin Ele Klein berichtet, die bei ihrer Unternehmensgründung nicht nur von den Banken im Regen stehen gelassen worden ist, sondern auch vom Gewerbeaufsichtsamt und von der Handwerkskammer: Eles Betrieb ist Ergebnis ihres Eigensinnes, der zupackenden Hilfe ihrer Geschwister und Freunde - als Änderungsschneiderei - Folge deutscher Regelitis. Die hohen Beiträge einer Damenschneiderei für die Handwerkskammer und Landesversicherungsanstalt hätten sie auf keinen grünen Zweig kommen lassen. Als Modedesignerin wiederum hätte Ele sich zwar über die Künstlersozialkasse sozialversichern, aber nicht ein einziges Kleidungsstück selbst fertigen dürfen, sondern nur entwerfen. Also blieb der gelernten und studierten Fachfrau nur ein >> schneiderähnliches Gewerbe << (Wortschatz des Gewerbeamtes) : eine >> Flickschneiderei <<. Ele: >> An den Gedanken mußte ich mich erstmal gewöhnen. << Wenn es die Absicht der neuen Bundesregierung sein sollte, Arbeitslosigkeit zu verringern, dann darf sie den Mittelstand nicht einengen. Dazu gehört auch, alles zu tun, was eine Regionalisierung der Wirtschaft fördert. Denn, zu den deutschen Überregulierungen kommen noch die bürokratischen Muskelspiele der Brüsseler Eurokratie.

Regulieren sollten wir nur über einen neuen Gesellschaftsvertrag, Eine neue Form mit einem neuen Inhalt! Das kann nur über eine Demokratisierung der Gesellschaft erreicht werden.

Die Rücknahme einiger Entscheidungen der alten Regierung ist keine neue Politik, zumindestens dann nicht, wenn über die Folgen nicht diskutiert wird. Das gilt auch für die Aufgabe der Atomkraftwerke. Die Dinger müssen weg! Es darf aber auch nicht passieren, daß wir die benötigte Elektroenergie in Zukunft von französischen Atomkraftwerken beziehen oder daß wir mit heimischer (schlechter) Braunkohle die Umwelt vergiften. Alternativen, so wie sie von der WERKSTATT FÜR DEZENTRALE ENERGIEFORSCHUNG e.V. angeboten werden, stehen nicht im Koalitionsvertrag. Alternativen heißen bei SPD und Bündnis 90/Die Grünen Sonnen - und Windenergie. Und selbst bei diesen Themen ist dem darin kompetenten SPD - Bundestagsabgeordneten Dr. Hermman Scheer keine Chance der Mitwirkung geboten worden.

Von dem neuen Außenminister Fischer ist bekannt, daß er dem deutschen Volk mißtraut und daß er deshalb jeden deutschen "Sonderweg" in der Außenpolitik vermeidet. Deshalb also diese elende Kontinuität? Aber was macht denn die deutsche Außenpolitik (und Wirtschaftspolitik) z.B. in Sachen Ilisu-Staudamm in Südostanatolien? Heike Drillich beschreibt in der Wochenzeitschrift FREITAG vom 6. November unter der Überschrift Rot-grüner Lackmustest und unter der Unterüberschrift Hermes-Bürgschaften: Fördert das Kabinett Schröder den umstrittenen Ilisu-Staudamm in der Türkei?, wie viele Dörfer und Städte in den Fluten des Großprojektes versinken werden. Aber was noch schlimmer ist: es geht bei diesen Staudämmen um das Wasser in Nahost. Die irakischen und syrischen Befürchtungen sind verständlich, zieht man Äußerungen von Staatspräsident Demirel in Betracht. >> Wir haben das Recht, mit unserem Wasser zu tun oder zu lassen, was uns beliebt <<, betonte er. >> Der Schnee, der auf unsere Berge fällt, gehört nicht den Arabern. Dieses Wasser ist unser Wasser. Das …l gehört dem, der …l hat, und das Wasser gehört dem, der Wasser hat << Die Weltbank lehnte es aufgrund des Konfliktpotentials des GAP (Anmerkung D.K.: so heißt das Staudamm - Projekt) bereits 1984 ab, den Atatürk-Staudamm zu finanzieren. (Der Fettdruck stammt von mir. D.K.) Natürlich haben neben anderen europäischen Firmen die Deutschen ihre Finger in den Geschäften rund um die geplanten Staudämme. Soll da Fischer nun Kontinuität der Außenpolitik zelebrieren, was ja angesichts der us-amerikanischen Türkeipolitik auch Abhängigkeit von der us-amerikanischen Außenpolitik bedeutet? Soll deutsche Außenpolitik Konflikte verhindern oder fördern?

Es wird weiterhin die Aufgabe des Kommentar-und Informationsbriefes NEUE POLITIK sein, die Bundesregierung kritisch zu begleiten und die internationale Politik zu kommentieren.

Ich danke den Leserinnen und Lesern für ihre Treue und meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für das Mitdenken und Mitarbeiten. Ich wäre erfreut, wenn Sie zu Weihnachten möglichst viele Bücher aus der beiliegenden Bestelliste und den alten Bestellisten verschenken würden. Politisieren Sie Ihre Freunde und Verwandten! Sie wissen, ich kann Ihnen jedes Buch beschaffen. Das hilft, den Kommentar- und Informationsbrief mit zu finanzieren.

Im Januar melde ich mich wieder. Bis dahin wünsche ich Ihnen ein FROHES WEIHNACHTSFEST und ein glückliches, gesundes NEUES JAHR:

Mit freundlichen Grüßen

Dieter Kersten

abgeschlossen am 12. November 1998

 
     
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