Dieter Kersten - Oktober 1998    
Editorial    
     
 

Liebe Mitstreiterinnen, liebe Mitstreiter, sehr geehrte Damen und Herren,

am 27. September sind erst einmal die Würfel gefallen. Zu dem Wahlspektakel und den Tagen danach finden Sie einen Beitrag auf Seite 2. Auffallend viel ist in den letzten Tagen von einer Berliner Republik und von einer Achse Bonn (Berlin), Paris und London gesprochen worden. Daß Schröder als erstes nach Paris reiste, und zwar bevor er zum Bundeskanzler gewählt worden ist, das kann ich nur begrüßen. Eine Einladung aus London liegt ebenfalls vor. Ich würde Herrn Schröder raten, dann nach Prag, Warschau und Moskau zu fahren und dann erst nach Washington. Genau in dieser Reihenfolge.

Statt dessen reist Herr Schröder (SPD), im Schlepptau Herr Fischer von Bündnis 90/Die Grünen, gehorsamst nach Washington - auch vor seiner Wahl zum Bundeskanzler. Er holt sich sozusagen den höchsten Segen.

Europäische Politik muß Vorrang vor transatlantischer Politik haben. In Westeuropa muß Herr Schröder auf eine gemeinsame europäische Außenpolitik drängen, die die unterschiedlichen geschichtlichen Erfahrungen und die nationalen Besonderheiten berücksichtigt bzw. so verarbeitet, damit sie, die Außenpolitik, einer europäischen Identitätsfindung dient. Wichtig ist auch, daß Herr Schröder auf eine europäische Verfassung drängt, auf europäische Verfassungsorgane, die die europäische Bürokratie in Zaum hält.

Ich halte es nach wie vor für notwendig, daß Europa, und wenn auch nur das EURO - Europa, atomwaffenfrei ist, bis zur der letzten Patrone abrüstet und als ein waffen-und militärfreies Land seine Neutralität in militärischen Konflikten erklärt.

Aber es ist nun mal so: realpolitisch ist, angesichts des festgefahrenen Kosovo-Dramas, eine Entmilitarisierung und Neutralisierung Europas zur Zeit illusorisch. Ich halte es für nötig, daß Herr Schröder die Leute seines Lagers, die außenpolitisch versiert sind, unverzüglich ausschwärmen läßt, um zu erkunden, ob das Morden im Kosovo ohne neues Morden (militärisches Eingreifen der NATO) zu verhindern ist. Es sollte ausdrücklich keine Geheimdiplomatie sein; wir haben als Volk ein Recht darauf, zu erfahren, was ein Primakov und Milosevic, aber auch ein Herr Chirac über Menschenrechte und Frieden denken und ob sie zu humanen Handlungen fähig sind. Die Protokolle dieser Gespräche sollten in alle Sprachen übersetzt und soweit wie irgend möglich an die betroffenen Völker (Menschen) verteilt werden. Zwei Haken haben diese Vorschläge: was machen wir, wenn selbst die deutschen Emissäre nichts von Menschenrechten verstehen bzw. davon nichts halten, und - was machen wir, wenn Herr Milosevic und andere die Emissäre auslachen? Herr Rühe, Verteidigungsminister des scheidenden deutschen Kabinetts, wird nicht müde, immer wieder auf den kommenden Winter hinzuweisen. Er will mit deutschen Kampfflugzeugen Menschenrechte schützen, d.h. Nahrung und Kohlen bringen. Nun ist es müßig, einen bereits abgewählten Minister darauf hin zu weisen, daß er in den vergangenen Jahren weder etwas gegen den serbischen Chauvinismus noch etwas gegen den kosovo - albanischen Separatismus unternommen hat. Es war doch zu schön: das Geschäft mit Waffen florierte. Wieso sollte er das Geschäft stören! Nun ist das Kind in den Brunnen gefallen. Wenn es einen militärischen Einsatz geben sollte, dann darf dieser nicht nur ein Lufteinsatz sein, nach dem Motto, wasch` mir den Pelz, aber mach` mich nicht naß, sondern es muß ein massiver Mannschaftseinsatz sein. Die Deutschen sollten sich aber ganz raushalten, meinetwegen Nachschubwege zur Verfügung stellen, aber um Gottes Willen keinen Soldaten nach Kosovo und nach Serbien schicken. Wenn die russische Armee nicht in einem so desolaten Zustand wäre, so würde ich Herr Primakov um diese humane Aktion bitten, sozusagen als Nagelprobe darauf, ob er dazu bereit und in der Lage ist, Menschenrechte wiederherzustellen.

Rußland kann nicht. Im Editional der September - Ausgabe brachte ich die Rußlandkrise in einem Satz mit dem Börsen-Crash in Verbindung. Am 28. September lese ich in der Berliner Tageszeitung DER TAGESSPIEGEL im Wirtschaftsteil folgende Überschriften: Die Wurzeln des Hedge-Fonds-Debakels reichen tief mit der Unterüberschrift Die Krise in Rußland war nur das Streichholz: Risikofonds und Wertpapierhäuser haben schon zuvor Fehler gemacht und Das Vertrauen in die Finanzmärkte steht auf dem Spiel mit der Unterüberschrift: Angst vor Schockwellen des abgestürzten Hedge-Fonds LTCM - Vier-Milliarden-Dollar-Hilfsplan soll Zusammenbruch verhindern. Es geht um das internationale Geldroulette der Banker. In dem zweiten Artikel von Anita Raghavan und Mitchell Pacelle steht folgendes: Die Federal Reserve Bank (Anmerk. D. K.: die Notenbank der USA, kurz auch FED genannt; der Chef heißt Alan Greenspan) kämpft um ein Hilfspaket für einen der erfolgreichsten Hedge-Fonds der 90er Jahre. In einer Reihe von Treffen im Hauptsitz der New Yorker Fed in Manhattan hat die Fed 16 Geschäfts- und Investmentbanken dafür gewonnen, mit neuen Finanzspritzen den riskanten Fonds zu unterstützen, der auf den internationalen Schuldenmärkten gewaltige Verluste erlitten hat. .... Die Fed ist auch deswegen so um das Schicksal von LTCM besorgt, weil dieser hochrangige Experten auf sich vereinigt. Zu dem Staraufgebot gehören etwa David Mullins junior, früherer Vizevorstand des Federal Reserve Board, der ehemalige Stanford-Student Myron Scholes, der den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften für seine Arbeit über die Preisbestimmung bei Optionen gewonnen hat, und Robert Merton, ein anderer Nobelpreisträger für Wirtschaft. ...

Aber zurück zu Herrn Primakov: er ist, so scheint es, integerer als Tschernomyrdin. Primakov ist nicht so tief in den neureichen Sumpf Rußlands eingesunken. Er scheint ein durchsetzungsfähiger Mann zu sein. Aber allem Anschein nach fehlt es dem großen, reichen Rußland an politischem Personal, denn es gelingt nicht, ein Krisenbewältigungs - Kabinett aufzustellen. Dabei gibt es unterhalb der >> Hohen Politik << wichtige Initiativen, die, gemessen an den Aufgaben und Notwendigkeiten, Tropfen auf den heißen Stein zu sein scheinen. Jede dieser kleinen Initiativen ist jedoch ein positiver Gedanke, die Menschen und einem Land helfen kann. Leser Norbert Schenkel schreibt mir, daß er mit der biologisch - dynamischen Farm Bolotowo, südlich von Moskau, verbunden ist. Norbert Schenkel schreibt: Weltuntergangsstimmung sollten wir nicht aufkommen lassen, auch wenn die Rahmenbedingungen immer enger werden. Es gibt viel Dunkles aber auch viel Lichtvolles auf der Welt.

Wenn ich nun schon eine Leserzuschrift zitiert habe, so darf ich Ihnen auch nicht einen Satz aus einem Brief von Dr. med. Joachim Mahler, anthroposophischer Arzt und Leser, vorenthalten, der u.a. schrieb: Sie fragen nach Kritik. Das ist schwierig. Das ganze Unternehmen müßte nicht kritisch gegenwarts - und vergangenheitsbezogen alleine sein, sondern aus einer globalen Zukunftsperspektive Richtlinien schöpfen für das, was wir ein menschenwürdiges Dasein nach Leib-Seele-Geist nennen.

Ich kann beiden Lesern nicht widersprechen. Ich brauche Ihre Hilfe: die Zeit frißt mich auf.

Mit freundlichen Grüßen

Dieter Kersten

abgeschlossen am 8. Oktober 1998

 
     
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